Gedanken zum Evangelium

Die Wölfe und der Hirte

 

Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 21. April 2024

 

Wölfe waren lange Zeit aus unserem Land verschwunden. Sie kommen wieder. Ihre Rückkehr ist umstritten. Soll man sie leben lassen oder sind sie zu gefährlich? Meine Mutter erzählte uns aus ihrer Kindheit: In den Kältemonaten vor 100 Jahren kamen Wölfe bis nahe an das Dorf ihrer mährischen Heimat. Sie waren ein Schrecken für Mensch und Vieh. Ich habe keine Meinung zur Frage, wie weit heute Wölfe geschützt sein sollen. Sicher ist, dass schon zur Zeit Jesu die Angst umging, Wölfe könnten die Schafherden bedrohen und Schafe reißen. In meiner Kindheit kamen Wölfe nur in den Märchen vor, vom Rotkäppchen oder vom Wolf und den sieben Geißlein.

 

Der uralten Angst vor dem bösen Wolf stellt Jesus das Bild vom Guten Hirten entgegen. Es bekommt seine Kraft aus dem Schutzbedürfnis, das tief in jedem Menschen steckt. Wer beschützt mich in drohender Gefahr? Die starken Bilder, die Jesus gebraucht, sprechen nicht zuerst die Vernunft an, sondern die Sehnsucht nach Sicherheit und Geborgenheit. Das erste und wohl tiefste Bedürfnis ist der Schutz des eigenen Lebens. Nichts gibt mehr Zuversicht als die Gewissheit, dass da jemand bereit ist, mich bedingungslos zu schützen, bis zur Hingabe des eigenen Lebens. Als Kinder leben wir vom Grundvertrauen, dass die Eltern alles für uns tun. Erst später beginnen wir zu begreifen, wie sehr sie ihr Leben für uns eingesetzt haben, wie viele Opfer sie zu bringen bereit waren, um uns den Weg ins Leben zu ermöglichen.

 

Umso bitterer ist die Erfahrung, wenn die Eltern einen im Stich gelassen haben, weil ihnen ihre eigenen Interessen wichtiger waren als das Wohl ihrer Kinder. Im Bild des schlechten Hirten bringt Jesus diese schmerzliche Situation zum Ausdruck. Der bezahlte Knecht will nur seine eigene Haut retten. Er denkt zuerst an sich selber und nicht an die ihm anvertrauten Schafe. An ihnen liegt ihm nichts. Es gehört zu den schwersten Momenten im Leben, im Ernstfall alleingelassen zu sein. Alle wenden sich ab. Niemand will mich kennen.

 

Wie anders klingen da die Worte des guten Hirten! „Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich.“ Einander kennen heißt zueinander in Beziehung stehen, voneinander wissen, für einander da sein, mit ganzem Einsatz: „Ich gebe mein Leben hin für die Schafe.“ Das Bild vom Hirten und der Herde mag heute vielen fremd sein. Es gehört nicht zu unserer Alltagserfahrung wie zur Zeit Jesu. Und doch empfinde ich es als ein ganz tiefes Symbol des Vertrauens und der Geborgenheit. Es sagt mir: Diesem Hirten bin ich kostbar und wichtig! Er gibt alles für mich, selbst sein Leben! Er tut das aber nicht nur für mich, auch nicht nur für meine Gruppe, meinen „Stall“: „Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen und sie werden auf meine Stimme hören.“ Jesus ist nicht der gute Hirte bloß einer Partei, einer Kirche, einer Religion. Er ist der Hirte der ganzen Menschheitsfamilie. Auch wenn wir noch weit davon entfernt sind, als die „eine Herde“ in Frieden miteinander zu leben, das Bild des guten Hirten weckt die Sehnsucht danach, besonders in Zeiten, da die Wölfe auf die Menschen losgelassen sind.

 

 

 Quelle: Kardinal Christoph Schönborn, Wien
Übersetzen »
DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner