
Der Sozialstaat und das Evangelium
Jesus nennt dieses Modell „das Himmelreich“ oder „das Reich Gottes“. Er meint damit nicht etwas, das es erst im Himmel geben wird. Er spricht von einer Gesellschaftsordnung, die schon hier auf Erden möglich ist. Jesus will, dass sie bereits jetzt das Leben der Menschen bestimmt, verändert und verbessert. Ist das nur ein frommer Traum?
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 24. September 2023.
Österreich ist zweifellos einer der bestentwickelten Sozialstaaten der Welt. Was macht einen Sozialstaat aus? Ich habe folgende Beschreibung gefunden (ich gebe zu, im Internet): Der Sozialstaat „sichert die Menschen in einem Land im Krisenfall (Krankheit, Arbeitslosigkeit, usw.) ab und gleicht das Einkommen zwischen den Lebensphasen (z. B. Pension im Alter) aus. Wer seinen Job verliert oder krank wird, steht in Österreich nicht vor dem Nichts“. In vielen Ländern der Welt ist es nicht wie bei uns. Das soziale Netz in unserem Land ist so dicht gespannt, dass Menschen in anderen Ländern nur davon träumen können. Wir sind so sehr daran gewöhnt, dass die Gefahr besteht, es für selbstverständlich zu nehmen. Das ist es nicht!
Was hat der Sozialstaat mit dem Evangelium zu tun? Das heutige Gleichnis Jesu von den Arbeitern im Weinberg spricht zwei Gesellschaftsmodelle an: das damals vorherrschende, das bis heute in weiten Teilen der Welt weiterbesteht, und das Modell einer Gesellschaft, die von Solidarität und ausgleichender Gerechtigkeit geprägt ist. Jesus nennt dieses Modell „das Himmelreich“ oder „das Reich Gottes“. Er meint damit nicht etwas, das es erst im Himmel geben wird. Er spricht von einer Gesellschaftsordnung, die schon hier auf Erden möglich ist. Jesus will, dass sie bereits jetzt das Leben der Menschen bestimmt, verändert und verbessert. Ist das nur ein frommer Traum? Sehen wir uns die Botschaft Jesu an, die im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg steckt.
Die Arbeitswelt dieses Gleichnisses ist von sogenannten prekären Arbeitsverhältnissen geprägt. Die Arbeiter sind Taglöhner. Werden sie vom Arbeitgeber engagiert, haben sie Arbeit für einen Tag, ohne Garantie für den nächsten Tag. Von Sozialversicherung ist keine Rede, auch nicht von Arbeitslosengeld. Wer krank wird, hat Pech gehabt. Der Gutsbesitzer braucht dringend Erntearbeiter. Es ist die Zeit der Weinlese. Vereinbart ist der Tageslohn von einem Denar, damals üblich. Mehrmals geht er auf den Marktplatz und heuert weitere Taglöhner an, die letzten eine Stunde vor Arbeitsschluss, um fünf Uhr Nachmittag. Am Abend wird der Tageslohn ausbezahlt, angefangen von den Letzten. Alle erhalten den vollen Tageslohn. Die den ganzen Tag gearbeitet haben, murren dagegen.
Und nun das Entscheidende: Was bewegt den Gutsherrn, allen den gleichen Tageslohn zu zahlen? Hat er gerade eine Spendierlaune? „Bist du böse, weil ich gut bin?“ Könnte es nicht sein, dass der Gutsherr einfach sozial gedacht hat? Warum sollen die Familien der Taglöhner, die keine Arbeit gefunden haben, Hunger leiden? Der Gutsherr hat das getan, was wir heute für selbstverständlich halten: dass die, die krank oder arbeitslos werden, nicht in die Not abstürzen. Er hat es aus Mitgefühl getan. Aus diesem urmenschlichen Mitgefühl wurden unsere sozialen Einrichtungen entwickelt. Möge es nie verloren gehen!
Quelle: Kardinal Christoph Schönborn, Wien