
Man sieht nur mit dem Herzen gut
Wer nur beim Augenschein bleibt, ist eigentlich blind. Die Botschaft des heutigen Evangeliums ist einfach: Der Glaube macht sehend. Er öffnet das Herz für Gott und für die Anderen. Gut sehen kann man nur mit einem geöffneten Herzen.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn
zum Evangelium vom 19. März 2023.
Heute wird im katholischen Gottesdienst eine wichtige Stelle aus dem Alten Testament gelesen. Der Prophet Samuel soll einen neuen König für Israel salben. Gott schickt ihn nach Bethlehem zu Isai, der acht Söhne hat. Einer soll König werden. Vom Ältesten angefangen stellt der Vater einen nach dem anderen dem Propheten vor. Der glaubt, dass Gott sicher den Erstgeborenen erwählt hat. Aber Gott gibt ihm zu verstehen, dass dieser nicht der Erwählte ist und fügt hinzu: „Gott sieht nicht auf das, worauf der Mensch sieht. Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz.“ Gottes Wahl fällt schließlich auf den jüngsten Sohn, auf David. Er wird der König „nach dem Herzen Gottes“ werden.
Um das echte Sehen geht es auch im heutigen Evangelium (wir geben es verkürzt wieder): Jesus schenkt einem Blindgeborenen das Augenlicht. Wie so oft löst das Tun Jesu Widerspruch aus. Er hat am Sabbat etwas getan, was der strengen Sabbatruhe widerspricht: Er hat eine (kleine) Arbeit verrichtet, hat mit etwas Erde und Speichel ein bisschen Teig gemacht und ihn auf die Augen des Blindgeborenen gestrichen. Als dieser sich im Teich das Gesicht wäscht, kann er sehen. Das große Wunder wird von den Pharisäern kleingeredet: „Dieser Mensch kann nicht von Gott sein, weil er den Sabbat nicht hält.“ Am Ende wird Jesus sagen, er sei gekommen, „damit die nicht Sehenden sehen und die Sehenden blind werden“
Die Pharisäer behaupten von sich, klar zu sehen. Sie messen alles am engen Maß ihrer Vorstellungen und richten und urteilen über die anderen. Wir sind nicht viel besser als sie. Wie oft urteile ich nach dem Aussehen, nach äußerlichen Eindrücken! Ich habe immer wieder eine schöne Erfahrung gemacht, wenn ich in Seniorenheimen Gottesdienst feiere. Ich blicke in viele alte Gesichter. Wenn ich „mit dem Herzen“ zu sehen versuche, wird oft in den Furchen des Gesichts eine ganze Lebensgeschichte sichtbar, Leid und Liebe, Schweres und Schönes. Manchmal habe ich dann den Eindruck, dass das Kindergesicht, die junge Frau durchscheinen. Noch stärker kann dieser Eindruck werden, wenn Menschen aus ihrem Leben erzählen. Ganz können wir nie in das Herz eines Anderen hineinsehen, aber unser Blick ändert sich, wenn wir mehr über die Geschichte des Anderen erfahren. Besonders eindrucksvoll erlebe ich das, wenn Menschen in der Beichte ihr Leben öffnen und ehrlich auf ihre Schuld, ihre Fehler schauen. Wie traurig, wenn wir für unsere eigenen Fehler blind sind und die der anderen haarscharf sehen und kritisieren! Wer nur beim Augenschein bleibt, ist eigentlich blind. Die Botschaft des heutigen Evangeliums ist einfach: Der Glaube macht sehend. Er öffnet das Herz für Gott und für die Anderen. Gut sehen kann man nur mit einem geöffneten Herzen.
Quelle: Kardinal Christoph Schönborn, Wien