Gedanken zum Evangelium

Ich nenne euch Freunde

 

Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium

vom 5. Mai 2024

 

Das Dom.Museum.Wien wird seine nächste Sonderausstellung dem Thema „Freundschaft“ widmen. Derzeit läuft noch bis 25. August die Ausstellung „Sterblich sein“, mit großem Erfolg. Wir alle sind sterblich. Wir alle sind mit dem Sterben befasst, wenn die Eltern sterben, gute Bekannte oder Freunde. Wie wird das Dom.Museum.Wien das Thema Freundschaft angehen? Wie das Sterben berührt auch das Thema Freunde jeden Menschen. Glücklich ist, wer echte Freunde hat. Es gibt kaum größere Enttäuschungen, als wenn man sich von einem Freund verraten fühlt. Aber was macht echte Freundschaft aus?

Für mich ist das Thema Freundschaft fast so etwas wie mein Lebensthema. Ich habe viel darüber nachgedacht. Vor allem kann ich sagen, dass Freundschaften mein Leben ungemein bereichert haben. Als Papst Johannes Paul II. mich 1991 zum Weihbischof von Wien ernannte, war meine erste Reaktion Schrecken, fast Panik. In den Stunden nach dieser Mitteilung ging mir immer wieder ein Wort Jesu durch den Kopf. Es ist das Herzstück des heutigen Evangeliums: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt, denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich vom Vater gehört habe.“ Ich habe daraus mein Bischofsmotto gewählt: „Euch aber habe ich Freunde genannt.“

Was macht also Freundschaft aus? Sind alle meine Follower auf meinen Social-Media-Seiten meine Freunde? Wie viele Freunde kann ein Mensch haben? Was unterscheidet Bekannte von Freunden? Ganz wesentlich gehört zur Freundschaft, dass sie gegenseitig sein muss. Freunde kennen sich wirklich, sie vertrauen einander, sie sind sich ganz nahe und vertraut. Deshalb kann man sehr persönliche Dinge nur mit echten Freunden besprechen. Voraussetzung dafür ist die gegenseitige Verlässlichkeit. Der Freund verrät nicht seinen Freund. Zur Freundschaft gehört der Umgang auf Augenhöhe. Keiner darf auf den anderen herabschauen, ihn bevormunden, gar beherrschen wollen. Denn Freundschaft gibt es nur in Freiheit. Zwang ist das Ende der Freundschaft. Sie bleibt immer ein Geschenk. Deshalb muss sie gepflegt werden, braucht Zeit füreinander.
Im heutigen Evangelium spricht Jesus zum kleinen Kreis seiner „Follower“, seiner Anhänger. Er nennt sie Freunde. Er spricht von seiner Liebe zu ihnen. Sie kann nicht größer sein, denn für seine Freunde gibt er alles, selbst sein Leben. Weil er für sie solche Liebe hat, sollen auch sie untereinander Freunde sein und einander lieben.

Seit langem bewegt mich die Frage, ob die Worte Jesu auch mir gelten. Nennt er auch mich seinen Freund? Kann ich von mir aus sagen, er sei mein Freund? Zwei Hindernisse stellen sich mir in den Weg: Kennen wir einander, so wie ich meine Freunde kenne und sie mich? Jesus ist unsichtbar und unhörbar. Kann das eine Freundschaft sein? Selbst wenn es möglich sein sollte, dass ich mit Jesus Freundschaft pflegen könnte, kann das auch für die Millionen anderer Menschen gelten, die an Christus glauben? Schenkt er allen diesen vielen seine persönliche Freundschaft, auf Du und Du, gegenseitig und vertrauensvoll?

Auch wenn es dem Verstand unmöglich erscheint, ist es genau das, was Jesus anbietet: eine persönliche Freundschaft. Wie soll das gehen? Bilde ich es mir ein oder stimmt es wirklich, so, wie er es sagt? „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.“ Die Initiative zu dieser Freundschaft geht von ihm aus. So sagt er es, so glaube ich es. So erlebe ich es. Deshalb kann und darf niemand zum Glauben gezwungen werden. Nur so ist diese Freundschaft möglich. Sie ist (s)ein wunderbares Geschenk.

 

 

 Quelle: Kardinal Christoph Schönborn, Wien
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