
Gedanken zum Gräbergang
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium
vom 02. November 2025
Heute ist Allerheiligen. Morgen Allerseelen. Die Heiligen, das sind die, von denen wir mit großer Sicherheit annehmen dürfen, dass sie im Himmel sind. An Allerseelen gehen wir zu den Gräbern unserer Verstorbenen. Wir erinnern uns an sie, wir wollen sie nicht vergessen. Sie waren in unserem Leben wichtig. Viele von uns beten auch für die, deren Gräber wir besuchen. Wer für die Toten betet, glaubt, dass sie leben. Doch wo sind sie? Haben sie noch einen Weg zurückzulegen? Sind sie mit dem Tod schon am Ziel? Brauchen sie noch eine Läuterung, um ganz im Glück des ewigen Lebens anzukommen? Soll ihnen unser Gebet dabei helfen?
Der Tod bleibt ein geheimnisvolles Tor. Wir wissen nur sicher, dass wir durch dieses Tor gehen müssen. Was dahinter wirklich auf uns wartet, wissen wir, ehrlich gesagt, nicht. Es gibt Ahnungen, Glaubenslehren, Hoffnungen, auch Befürchtungen. In Mozarts „Requiem“ ist das längste Stück das „Dies irae“. Es dauert volle 20 Minuten. Dieser mittelalterliche Text, den Mozart so unvergesslich vertont hat, ist voller Gedanken und Bildern über das Gericht, das uns nach dem Tod erwarten soll: „Was werde ich Armseliger sagen, wenn der Richter kommt?“ Ausführlich spricht das „Dies irae“ (auf Deutsch: „Tag des Zornes“) von Angst und Schrecken des Gerichts. Auch die Bibel verschweigt das nicht. Umso leuchtender sind in Mozarts Vertonung die Worte, die vom Vertrauen in die Güte und Barmherzigkeit Jesu sprechen.
Was wir nach dem Tod erwarten dürfen, ist wohl nie schöner gesagt worden als in den acht Seligpreisungen des heutigen Evangeliums. Jesus nennt keine Gebote oder Verbote. Er gibt keine Belehrungen. Er spricht nur von dem, was den Menschen „selig“ macht, nicht erst im Himmel, sondern jetzt schon, in diesem Leben. „Selig“ nennt Jesus Menschen, die gewisse Lebenseinstellungen und Verhaltensweisen haben. Zweimal, am Anfang und am Ende, verheißt Jesus diesen Menschen: „Ihnen gehört das Himmelreich“, schon auf Erden und endgültig im Himmel.
Jede „Seligpreisung“ ist mit einer Verheißung verbunden. Nach gut jüdischer Art wird dabei der Name Gottes vermieden, den man nicht ausspricht. „Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden“: Gott selber wird sie trösten! Er selber wird alle Sehnsucht erfüllen. Das alte Sprichwort stimmt eben nicht: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Niemand kann sich selber, nur aus eigener Kraft, glücklich machen. Alle aber können wir das Unsere dazutun, dass unser Leben hier und drüben glückt und damit selig wird.
Die erste der acht „Seligpreisungen“ ist die grundlegende: „Selig, die arm sind vor Gott.“ Das klingt wie das Gegenteil von allem, was normalerweise unter Glück verstanden wird. Und doch ist nichts wahrer, als dass wir vor Gott wirklich arm sind. Was macht Armut aus? Angewiesen sein auf Hilfe! Gefährdet und begrenzt sein! Ohnmacht und Abhängigkeit! Kein noch so großes Vermögen kann all das beseitigen. Jeden Tag beginnen wir deshalb das kirchliche Morgengebet mit den Worten: „Oh Gott! Komm mir zu Hilfe!“ Wer diese Einstellung hat, wird mit anderen barmherzig, sanftmütig, friedfertig sein. Er wird auch in schweren Momenten etwas von dem erfahren, was Jesus „selig“ nennt. Beim Friedhofsbesuch fragen wir uns: Wie geht es wohl unseren Verstorbenen? Wie wird es uns einmal „drüben“ gehen? Die Seligpreisen sind Jesu Wegweiser. Er hat sie selber vorgelebt.
Quelle: Kardinal Christoph Schönborn, Wien

